Der Tiefpunkt
Nächste Woche jährt sich mein Einzug in die Klinik zum zweiten Mal und je näher das Datum rückt, umso mehr denke ich an diese Zeit.


Am Montag den 18.3.2013 bin ich zur Arbeit nach Braunschweig gefahren. Ich dachte immer nur, ich kann nicht weiterfahren. Ich wollte ständig rechts ran fahren und auf der Arbeit anrufen, dass jemand anders nach Braunschweig fahren muss, aber das traute ich mich dann doch nicht. Ich verstand das nicht, denn der wöchentliche Besuch in der Braunschweiger Niederlassung war der einzige Teil meiner Arbeit, bei dem es mir noch einigermaßen gut ging. Ich verstand mich dort gut mit allen, sowohl ich als Person als auch meine Arbeit wurden respektiert. Aber ich konnte kaum fahren, ich zitterte und weinte und hatte Angst, das ich absichtlich einen Unfall baue, nur um nicht zur Arbeit zu müssen. Solche Gedanken hatte ich zwar schon oft, aber an dem Tag war es so… so… real… es war nicht nur so ein Gedanke, es klang in meinem Kopf wie ein Plan der kurz vor der Durchführung stand. Bei jeder Ausfahrt wollte ich von der Autobahn runter und wieder nach Hause fahren, aber ich bin an jeder Ausfahrt vorbei gefahren. Und mit jeder Ausfahrt, die ich vorbeiziehen ließ kam die Arbeit näher und die Panik wurde größer.
Ich schrie mich selber an: Jetzt ist Schuss, reiß dich gefälligst zusammen und fahr nach Braunschweig und morgen, ja morgen gehst du zum Arzt und lässt dich krankschreiben bis zur Reha und danach wird die Arbeitszeit auf 30 Stunden reduziert – Aus – Basta!! Dieses eine Mal kriegst du das ja wohl noch hin!!!

Und das eine Mal habe ich es dann auch noch hinbekommen.

Im Laufe des Tages hatte ich eine Besprechung mit dem Niederlassungsleiter. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr kann und am nächsten Tag zum Arzt gehen würde, um krankschreiben zu lassen. Ich musste das laut aussprechen, damit es auch jemand anders hört und ich keinen Rückzieher mache. Er war sehr verständnisvoll und wir haben, wie so oft, lange zusammen gesessen und geredet.

Am nächsten Morgen habe ich verschlafen und dachte mir: den Göttern sei Dank! Wäre ich pünktlich aufgewacht, wäre ich vielleicht doch zur Arbeit gefahren. Aber so rief ich im Büro an, meldete mich krank und ging zu meiner Hausärztin.

Als die mich fragte, was sie für mich tun könne, brach ich in Tränen aus und brauchte einige Zeit um ihr zu erklären, dass ich schon einen Antrag auf Reha zu hause liegen habe und sie mich doch bitte bis dahin krank schreiben solle da ich nicht mehr ein noch aus wisse. Die Ärztin war sehr freundlich und nahm sich viel Zeit für mich. Sie wollte natürlich mehr zu meiner Situation wissen und ich erzählte ihr, dass ich komplett überfordert bin mit mir, meiner Arbeit, meinem Leben, dass ich mittlerweile schon in der Öffentlichkeit weine, kaum noch schlafe, dafür aber oft verschlafe. Beim gehen sei jeder Schritt zuviel und eigentlich wolle ich mich dann nur noch hinlegen, egal wo ich sei. dass ich mich nach der Arbeit aufs Sofa lege und mich mit TV Serien und Essen betäube, dann in Klamotten auf dem Sofa einschlafe und morgends wieder zur Arbeit fahre. Wenn da ein Wochenende dazwischen ist, dann kann es sein, dass ich auch mal erst Montag früh die Arbeitsklamotten ausziehe und das erste mal wieder dusche. Aufgestanden wird eh nur, um auf Klo zu gehen oder um Verpflegung zu holen.
Mobbing im Job, berufsbegleitende Fortbildung, mit dem Hausdarlehen finanziell überworfen, belastende Familiensituation, belastende Wohnsituation - Zu viele Baustellen, zu wenig Kraft.
Keinen Überblick mehr.

Meine Ärztin fand meinen Plan gar nicht so toll, sie wollte, dass ich ich umgehend in die Psychiatrie gehe. Mein erster Gedanke war ein großes Fragezeichen, aber dann dachte ich, na gut, wenn sie das sagt, dann mache ich das halt. Sie muss es ja wissen. Ich war gar nicht mehr fähig eine eigene Entscheidung zu treffen, meine letztes bißchen Kraft hatte ich aufgewendet um am Morgen zu ihr zu gehen.
Sie telefonierte mit der Aufnahme und mit der Station und schrieb mir eine Einweisung.

Ich ging nach Hause, Koffer packen.
Das war alles so unwirklich.
Was nimmt man mit in die Psychiatrie?
Naja, mal sehen…
Mutter n Zettel in die Küche gelegt: Bin in Ilten, mach dir keine Sorgen, Melde mich
Koffer ins Auto geladen.
Zettel wieder aus der Küche geholt: ich glaube ich sag ihr das lieber am Telefon.

Ich fahre nach Ilten, melde mich an der Aufnahme, nach kurzem Warten das Aufnahmegespräch. Alles nochmal erzählen, noch mehr Tränen und Angst… Was, wenn die mich wieder nach Hause schickt? Was dann?
Ich werde aufgenommen, weil man mich aufnehmen muss. Hat was mit der Sektorenzuteilung der Kliniken zu tun, aber es gibt kein Bett für mich. Ich muss erstmal in auf einer anderen Station zwischengeparkt werden. Die ander Station ist eine geschlossene Station. Ich komme durch die Schleuse und habe erstmal ein Gespräch mit der dort für mich zuständigen Ärztin. Noch mal alles erzählen, noch mehr Tränen… ich weiß gar nicht, wo die überall herkommen… wieviel kann ein Mensch überhaupt weinen?
Die Oberärztin kommt dazu. Stellt ein paar einfühlsame Fragen, macht einen Witz, wir drei lachen. Wie zum Henker hat sie das gemacht? Das war der erste Lichtblick.
Man zeigt mir die Station und mein Zimmer.
Es sieht aus wie in älteren Filmen, alt, karg, heruntergekommen. Die Patienten teilweise total entrückt. Sabbern, schreien, wirres Zeug stammeln… Ich hab Angst, hier soll ich bleiben? Ich muss alles abgeben, Handykabel, Feuerzeug, Rasierer, alles was als Waffe benutzt werden könnte. Ich muss einen Zettel unterschreiben, dass ich mich freiwillig in der Geschlossenen Abteilung behandeln lasse. Ich denke an mein Praktikum in der Psychiatrie vor 15 Jahren… Die Frauen haben alle erzählt, sie kamen freiwillig und man hat sie nicht mehr rausgelassen… ich denke daran, dass meine Mutter auch hier war…

Ich frage: wenn ich das heute unterschreibe und morgen gehen will, dann kann ich gehen, oder?
Die Schwester sagt: im Prinzip ja.
Ich frage: Was heißt im Prinzip?
Sie antwortet: Wenn wir denken, Sie sind eine Gefahr für sich oder ihr Umfeld, dann können sie nicht gehen.
… na gut… ich habe ja keine andere Wahl…wo soll ich auch sonst hin… ich unterschreibe… und bin damit gefühlt am absoluten Tiefpunkt meines Lebens.


Hier gehts weiter mit Der Anfang vom neuen Leben
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